Kampf gegen Armut und Inflation

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In der aktuellen öffentlichen Diskussion wird häufig an die Inflation der Jahre 1923/24 und ihre verheerenden sozialen und politischen Folgen – Massenarmut und Entstehung des Nationalsozialismus (Hitlerputsch, NSDAP-Abgeordnete in Parlamenten) – erinnert. Dabei werden die sozialdemokratischen Frauen vergessen, die sich mit ihrem Werk der Gründung und dem Aufbau der Arbeiterwohlfahrt in den Jahren 1919 – 1924 unter den argwöhnischen Blicken der bürgerlichen und konfessionellen Wohlfahrtspflege und vielen ihrer männlichen Genossen dem Kampf gegen Massenelend stellten.

Der jungen Organisation AW bot sich die Chance, sich auf den brennenden Feldern sozialer Hilfe zu profilieren und zu bewähren. Es galt, der Kindernot, den Notständen der Arbeitslosigkeit, des Hungers, der Inflation, der Jugendverwahrlosung, der Erschöpfung und Überforderung zahlloser Familienmütter, ungesunden Wohnverhältnissen und weiteren Missständen organisatorisch etwas entgegenzusetzen.

Erstmals ist für das Jahr 1920 der Einsatz des AW-Ortsausschusses für die gerade eingerichtete Kindererholungsstätte „Wegscheide“ bei Bad Orb dokumentiert, und nur ein Jahr später setzten die Frankfurter ein Gremium zur Überwachung des gewerblichen Kinderschutzes und der Bekämpfung des nächtlichen Straßenbettelns der Kinder ein.

Die sich in den folgenden Jahren exponentiell verschärfende Inflation sorgte dafür, dass die Menschen nur wenige Jahre nach Kriegsende um das blanke Überleben ringen mussten. Im Herbst/ Winter 1922/23 organisierte sich daher der Frankfurter Verein „Winternot“, unterstützt durch einen Aufruf von Thomas Mann, um aus dem Verkaufserlös gespendeter Wertgegenstände den Bedürftigsten zu helfen. Ein öffentlicher Aufruf „Helft!“ fand auch die Arbeiterwohlfahrt in den Reihen der Unterzeichner. Es war die erste öffentlichkeitswirksame Hilfsaktion der jungen AW Frankfurt. Kaum mehr vorstellbar ist, dass Menschen nach der Lohnauszahlung die Läden stürmten, weil Stunden später die Waren ein Mehrfaches kosteten; alltägliche Lebensmittel, Fahrscheine oder Kinokarten wurden mit Milliarden- oder Billionenbeträgen bezahlt. Die Inflation traf die Stadt und ihren sozialen Frieden bis ins Mark. Hier schlug nun die Stunde der ehrenamtlichen Helfer*innen der AW. 1923/24 engagierten sich ca. 300 sozialdemokratische Genoss*innen – zehn Mal mehr als im Jahr 1919 – für ihre Mitmenschen, die von existentiellen Problemen gequält waren. So organisierten sie Schulspeisungen für 800 Kinder, Hausbrand, Kleidung und Schuhe, sie gaben wöchentlich 400 bis 500 Essenskarten für Erwerbslose und Kurzarbeiter aus und schafften es sogar, 250 Kinder zu einem Erholungsaufenthalt in die Schweiz zu verschicken.

In der Inflationszeit liegen auch die Anfänge der AW-Seniorenarbeit. Zahlreiche Mitarbeiter*innen unterstützten die Rentnerfürsorge der „Centrale für private Fürsorge“ und halfen den verarmten alten Menschen bei der Beschaffung von Lebensmitteln, Kleidung und Brennstoffen.

In den „Goldenen Zwanziger Jahren“ (1924 bis 1928) beruhigte sich die wirtschaftliche und soziale Situation, auch wenn die Nachkriegsnot nicht verschwunden war, 1928 galt es immer noch 2.800 Personen zu betreuen. Die AW etablierte sich in diesen Jahren in den demokratischen staatlichen Wohlfahrtsgremien, die aber den Belastungen und Gefahren der Ende 1929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise nicht standhielten und schließlich von den Nationalsozialisten zerstört wurden. Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit war der Dreh- und Angelpunkt des Schicksals der Weimarer Republik. Die AW war sich dieses Verhängnisses bewusst und suchte auf lokaler Eben gegenzusteuern. Sie beteiligte sich an drei großen Hilfsprogrammen: bei der „Selbsthilfe der Frankfurter Jugend“, im „Verein Erwerbslosenküchen“ und bei der Errichtung eines Heims für erwerbslose Jugendliche.

Erstgenannte brachte ab Anfang 1932 als parteiübergreifende Gründung der Frankfurter Jugendverbände etwa 1.600 von fast 8.000 arbeitslosen jungen Menschen in Arbeit und Brot.

Der „Verein Erwerbslosenküchen“, von der AW mitgegründet im Winter 1930/31, bot – gegen geringe Bezahlung – selbstbereitete Mittagessen für den häuslichen Tisch; 25 Küchen lieferten unter starker ehrenamtliche AW-Beteiligung ca. 5.000 Mahlzeiten.

Schließlich das Heim für erwerbslose Jugendliche: zusammen mit der Sozialistischen Arbeiterjugend wurde 1930/31 ein Tagesheim für ca. 100 arbeitslose, in der Mehrzahl männliche junge Menschen eingerichtet, Von 14 bis 19 Uhr – außer sonntags – bot es Arbeit u.a. in einem Nähzimmer und einer Schreinerwerkstatt.

Die Nazis beendeten all diese Projekte und fegten die AW wie auch die Jüdische Wohlfahrtspflege im April 1933 noch vor der offiziellen Auflösung der AW und der SPD aus Ämtern und Würden und verfolgten ihre Repräsentanten.

Ähnlichen sozialen und gesellschaftlichen Herausforderungen sah sich die AW, heute AWO, nach ihrer Wiedergründung im Oktober 1945 im zerstörten Frankfurt konfrontiert, mit ähnlichen Schwerpunkten und wieder mit nicht wegzudenkendem ehrenamtlichem Engagement von vielen ihrer 11.000 Mitglieder.

Dieter und Hanna Eckhardt

Literaturhinweise:

  • „Ich bin radical bis auf die Knochen“ – Eine  Biografie von Hanna und Dieter Eckhardt (Frankfurt 2016)
  • 1919 – 2019: Festschrift zum 100-jährigen Jubiläum des Arbeiterwohlfahrt Kreisverbandes Frankfurt am Main e.V. (Frankfurt 2019)
  • „Selbsthilfe in Ruinen“ – Die Arbeiterwohlfahrt Frankfurt am Main in den drei wilden Jahren 1945 – 1948 (Frankfurt 2005)

Der Kreisverband ist auf die Bücher ansprechbar.